Prof. Volker Hielscher ist Arbeitszeitforscher am Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft e. V. (iso) in Saarbrücken. Er rät Unternehmen, für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie die Arbeitszeit nicht nur umfassend zu flexibilisieren, sondern auch Arbeits- und Leistungsanforderungen sowie Aufgaben betrieblich zu regeln.
Herr Hielscher, wie hat sich die Arbeitszeitflexibilisierung nach Corona weiterentwickelt und wie zahlt dies auf eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein?
Ein großer Schub für mehr Vereinbarkeit war die Verknüpfung von zeitflexiblen Arbeitsformen, die es für einige Branchen schon seit den 1990er-Jahren gibt, mit ortsflexiblem Arbeiten im Homeoffice. Viele – Vollzeitbeschäftigte, Mitarbeitende in Branchen, die vorher mit flexiblen Arbeitszeiten noch gar keine Erfahrung hatten, und insgesamt männliche Erwerbstätige – haben gemerkt, wie familienfreundlich ein Leben mit flexibleren Arbeitszeitbedingungen sein kann.
Inwiefern schafft die Flexibilisierung der Arbeitszeit Zeitsouveränität für Beschäftigte?
Zeitsouveränität hat zwei Aspekte: Erstens, dass Arbeitszeit geschoben, unterbrochen oder bedarfsorientiert zu atypischen Zeitpunkten beendet werden kann, d. h., Beschäftigte können über die Lage der Arbeitszeit selbst bestimmen. Zweitens, dass Zeitsouveränität immer auch den Aspekt der Verfügbarkeit über Zeit hat. Zeit ist immer nur einmal da. Sie wird dann gebraucht, wenn ein individueller Bedarf auftritt. Formelle Regelungen, die es erlauben, dass Sie Ihre Arbeitszeit eigenverantwortlich einteilen können, sind eine gute Grundlage für Vereinbarkeit. Aber sie sind nicht hinreichend, wenn es faktisch nicht möglich ist, dann auch Arbeit zu verschieben oder zu einem späteren Zeitpunkt zu erledigen. Denn wenn Sie einen familienbedingten Termin wahrnehmen, dann können Sie am gleichen Tag vielleicht nicht unbegrenzt Zeit dranhängen. Die BAuA-Arbeitszeitbefragung von 2021 hat gezeigt, dass die Zufriedenheit bei den Arbeitnehmenden deutlich höher ist, wenn es eine betriebliche Regelung gibt, in der auch Arbeits- und Leistungsanforderungen sowie Aufgaben geregelt sind. Das heißt, Unternehmen müssten den Zusammenhang zwischen Termin- und Leistungsdruck und der Tendenz, Überstunden zu leisten, sehen und ihm strukturell entgegenwirken.
Wo liegen die Schattenseiten von Zeitsouveränität und wie können Unternehmen damit umgehen?
Zeitsouveränität ist mehr als nur formal eine flexible Arbeitszeitregelung, sie muss auch realisiert werden können. Die Schattenseiten liegen in der Entgrenzung. Es gibt in manchen Betrieben eine Tendenz, dass sich mit dem Homeoffice auch die Erreichbarkeitsanforderungen ausgeweitet haben. Aber das Entgrenzungsthema ist auch ein subjektives Thema, weil Beschäftigte Schwierigkeiten mit dem Abschalten haben und quasi permanent an die Arbeit denken. Ihnen fehlt eine räumliche Trennung, wie man sie klassisch zwischen dem betrieblichen Arbeitsplatz und der Familie hat. Diese Distanz dient ja auch dazu, eine mentale Distanz aufzubauen. Das Entgrenzungsthema ist also ein zeitliches, ein inhaltliches und unter Umständen auch ein räumliches. Unternehmen können folgende Fragen klar regeln: Innerhalb von welchem Zeitkorridor sollten Beschäftigte erreichbar sein? Wie sind Ansprechzeiten? Bis wann sollte man reagiert haben, wenn man per E-Mail noch eine Anfrage von Kolleginnen oder vom Chef kriegt? Im Kontext der Arbeit in digitalisierten Arbeitsumgebungen ist es wichtig, dass es hierfür klare Vereinbarungen gibt.